Die Christrose ist eine Arznei, die besonders am Anfang und Ende eines Lebens, wenn die Bedürftigkeit nach Schutz überlebenswichtig ist und Hilfe und Unterstützung dringend benötigt werden, große Bedeutung hat.
Individuelle, prägnante Zeichen und Besonderheiten können zur Arzneimittelfindung in der Differenzierung bestimmter Arzneimittelbilder wichtige Hinweise sein.
In der Homöopathie gibt es Arzneien, die bei der Verschreibung in der Kinderheilkunde eine besondere Bedeutung haben. Wenn in der frühkindlichen Lebensphase Defizite erkennbar werden oder tiefer liegende Verzögerungen körperlicher oder auch geistiger Natur die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen, wird eine homöopathische Behandlung in Erwägung gezogen. Die Eltern spüren meist recht deutlich, dass es bei ihrem Kind einen Mangel, eine feine Unterscheidung zu anderen Kindern oder wirkliche Beeinträchtigungen gibt.
Arzneien, die jeweils genau diese individuelle Färbung des Defizites in der “Andersartigkeit“ abbilden, stehen in ihrem Entwicklungspunkt in der Evolution oft auch am Anfang der Entwicklungsgeschichte auf der Erde.
Bei den Mineralien sind es vermehrt die Elemente oder Salze am Anfang oder oben in den Reihen des Periodensystems. Dort sind die Elemente noch sehr einfach und gekennzeichnet von einem dringenden “Bedürfnis nach Unterstützung in ihrer Elektronenkonfiguration“ um stabil zu werden. Elemente, die in der Natur besonders in Verbindungen vorkommen, da sie ein stabilisierendes Element benötigen und daher isoliert sofort wieder eine Verbindung eingehen.
In der Tierwelt sind es die schon seit Urzeiten einfach entwickelten Tiere, die oft aus dem Meer kommen. Von ihnen ist das Arzneimittel Calcium carbonicum, hergestellt aus der mittlere Schicht der Austernschale, die bekannteste homöopathische Arznei in Kinderheilkunde.
Bei den Pflanzen sind es die Arzneien aus den einfach entwickelten Pflanzenfamilien, zu denen bei den Blütenpflanzen unter anderem die Magnolien, Mohngewächse und die Hahnenfußgewächse gehören. Zu dieser Pflanzen-Arzneifamilie, den Ranunculaceae gehört auch die Arznei Helleborus niger. Die bekannteste Vertreterin ist in der Kinderheilkunde jedoch sicherlich die Arznei Pulsatilla.
Die Hauptthemen der Menschen, die Arzneien aus der Familie der Ranunculaceae benötigen, sind auf der Ebene ihrer Empfindung folgende: Kann ich die Verantwortung übernehmen trotz eines inneren Gefühls keine Kontrolle zu haben. Sie sind leicht beeinflussbar, die Reize von außen dringen direkt in die Tiefe. Das Nervensystem ist hoch empfindsam und so verlieren sie leicht die Kontrolle, was sich in diversen Krankheitszuständen ausdrücken kann. Symptome wie Zittern, stechende Schmerzen und hysterische Beschwerden sind vielerlei Ausdrücke eines “ zu offen liegenden Nervensystems“!
Aber kommen wir nun zu der Christrose. Sie erblüht wie ein kleines Blütenwunder indem sie oft noch im Winter im Gestrüpp ihre Blütensterne aus der kalten Erde streckt. Sie hat auch den Namen Schwarze Nieswurz. “Schwarz“, wegen der schwarzbraunen Färbung des Wurzelstocks, dessen Pulver früher als Schnupftabak verwendet wurde.
Kennzeichnende Symptome für dieses Mittel beim Patienten sind die besonders verzögerten Reaktionen im Aufnehmen und Verarbeiten äußerer Reize. Es ist eine Abstumpfung des inneren Gefühls bei guten Sinnesorganen. Er denkt lange nach bevor er antwortet, zeigt äußerst schwieriges Begreifen und langsames Sprechen, jedoch nicht aus einer Apathie heraus.
Schon bei den Römern gab es ein Sprichwort „Helleboro opus habet.“ Das bedeutet: „Er hat Nieswurz nötig!“ Sozusagen: „Es fehlt ihm an Verstand.“
Dies können die Folgen von einer Gehirnerschütterung, einem Schlag an den Kopf oder ein Hirnschlag sein. Bei Krankheiten mit Beteiligung des Gehirns zB bei Geburtskomplikationen oder in der Geriatrie ein Schlaganfall.
Das Kind bewegt die Lippen, als wolle es etwas sagen, findet aber die Worte nicht und bringt keinen Ton heraus und starrt mit leerem Gesichtsausdruck vor sich hin. Dieses langsame Begriffs- und Reaktionsvermögen wird auch bei alten Menschen beobachtet. Sie sitzen mit blassem Gesicht, Stirnrunzeln und starrendem Blick nur da, zupfen an ihrer Nase. Der Kopf ist heiß und die Glieder eiskalt.
Ein wenig „schimmert“ die Signatur dieser Pflanze durch, die mit ihrer Blüte in die Wintersonne herausragt während die gefiederten Blätter im Schnee verborgen sind.
Hinter dem gleichgültig erscheinenden Ausdruck steckt die große Angst etwas falsch gemacht zu haben und die Familie zu verlieren. Ein Liebesverlust kann z.B. dazu führen, dass sie das Gefühl haben etwas Unrechtes getan zu haben und schuldig zu sein. Es ist ein machtloses Erleben, nur noch passiv allem problemhaften aus dem Weg gehen zu können, in der Hoffnung, dass es sich von alleine erledigt. Es ist die Angst, wegen einem Fehlschlag alleine gelassen zu werden.
Sie befinden sich wie bei einem Zusammenbruch in einen nebeligen inneren Zustand, weil sie zu empfindsam sind und so machen sie “zu“. Alles dringt in sie hinein, aber da ist keine Kraft mehr zu reagieren, es bleibt ein Gefühl zurück innerlich leer oder hohl zu sein. Wir sehen in dem Arzneimittelbild von Helleborus den passiven Teil einer Ranunculaceae-Familien-Energie! Den zusammengebrochenen Zustand eines zu schwachen Nervensystems mit einer so großen Sensibilität für Verantwortung, die aber überhaupt nicht mehr übernommen werden kann. Hier ist das Erleben eines alten Menschens plötzlich spürbar, der in sich gekehrt im Bett liegt und sich, wie abgestumpft, resigniert immer wieder an der Nase zupft. Kaum noch reagiert er auf Ansprechen, mit leeren Augen starrt er vor sich hin und wenn er antwortet, spricht er nur sehr langsam das nötigste. Für solch verschlossene, Menschen welche keine Kraft mehr für Eigenständigkeit im Leben haben, kann die Christrose mehr sein als nur eine “Auferstehungsblume“, wie sie auch im Volksmund genannt wird.
In der schweigenden Welt,
Die der Winter umfangen hält,
Hebt sie einsam ihr weißes Haupt;
Selber geht sie dahin und schwindet
Eh’ der Lenz kommt und sie findet,
Aber sie hat ihn doch verkündet,
Als noch keiner an ihn geglaubt.
Johannes Trojan
(1837 – 1915), deutscher Humorist, Dichter und Redakteur des »Kladderadatsch«