„Das Kälbchen Rosalie“ – ein Beispiel von Pulsatilla pratensis

Ein „Arzneimittel-Bild“ in der Homöopathie, was ist das eigentlich?

Die Arzneien, welche in der homöopathischen Behandlung verordnet werden, sollten immer möglichst exakt der Ähnlichkeit des Krankheitsbildes entsprechen. Um nun ein “Arzneimittel-Bild“ zu beschreiben ist es hilfreich, ein “Krankheits-Bild“, also den Zustand (des Patienten) in der Krankheit genauer zu betrachten. Dazu gehören nicht nur die objektiven Krankheits-Symptome, wie die Beschwerden des Kranken, sondern auch die Umstände, die Modalitäten, die eine Verschlimmerung oder einer Besserung der Beschwerden auslösen dazu, die Uhrzeiten sowie die Gemütszustände, Begleitbeschwerden, als auch sonstige ungewöhnlichen Auffälligkeiten.

Diese hat Hahnemann in seinem Organon der Heilkunde im § 153 folgendermaßen beschrieben: es sind „… die auffallenden, sonderlichen, ungemeinen und eigenheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome des Krankheitsfalles vorzüglich und fast einzig fest in’s Auge zu fassen; denn vorzüglich diesen müssen sehr ähnliche in der Symptomenreihe der gesuchten Arznei entsprechen, wenn sie die passende zur Heilung seyn soll.“

Mit diesen Worten, in der für uns zwar altertümlich anmutenden Sprache, aber mit einer unglaublich exakt formulierten Anweisung, können wir uns dem Verständnis der Energie der Arznei als “Kunstkrankheit“ ähnlich der Energie eines “Krankheits-Falles“ nähern. Hahnemann beschreibt, dass es nicht nur auf eine Handvoll Beschwerden ankommt, um eine homöopathische Arznei zu finden, sondern vielmehr auch auf all jene sonderlichen Zeichen, die eben nicht in ein Krankheitsgeschehen zu passen scheinen!
Aber genug der Theorie! Hier das kleine Krankheits-Beispiel vom “Kälbchen Rosalie“:

April, von Leandro Bassano, eigentlich: Leandro da Ponte, genannt Leandro Bassano, 1557 Bassano – 1622 Venedig –

Eine dick gelblich eiternde Bindehautentzündung bei einem Kälbchen war die auffallendste Beschwerde, wegen der ich gerufen wurde. Euphrasia (Augentrost) in Tropfen und als Globuli wurden schon gegeben, halfen aber nicht. Im Gegenteil, es kam noch ein starker, erschöpfender Husten dazu, der in der Nacht schlimmer wurde und nicht nur das Kälbchen, sondern auch die Bäuerin am Schlaf hinderte. Am meisten beunruhige es die Bäuerin aber, dass das so vital auf die Welt gekommene Kälbchen nicht mehr richtig trinken wollte.

Genau so, wie ich es immer in einer Anamnese tue, fragte ich die Bäuerin nach den auffallenden Veränderungen und nach dem Wesen der kleinen Rosalie. „Ja mei, sie ist für uns irgendwie so ein besonderes Kälbchen, sie kommt immer gleich an, will gekrault werden und drückt sich sanft an uns, gerade so, als ob sie diese liebevolle Nähe sucht.

So ist es auch jetzt während dem Husten, sie ist nur durch Streicheln von mir oder durch das Ablecken der Kuh zu beruhigen. Doch der Zustand wechselt ständig. Wenn das Kälbchen länger im Stall ist, dann wird alles schlimmer. Es sucht bei geschlossenem Tor immer eine Ecke, in der frische Luft durch einen Spalt herein zieht; das ist schon komisch! Und jetzt, wie es so warm wurde, da ging der Husten erst richtig los. Eigentlich kann ich gar nicht so viel erzählen, denn immer wenn ich denke, dass es gerade “so ist“, wechselt das Beschwerdebild wieder. Erst dachten wir, sie hat Zugluft abbekommen, wegen dem linken, entzündeten Auge. Doch dann merkten wir, dass es ja gerade die kühle Luft sucht… Na, ich weiß gar nicht mehr weiter, Rosalie ist so wechselhaft “wie ein Apriltag“! “

Wiesen-Kuhschelle (Pulsatilla pratensis), von Stefan.lefnaer – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

Wenn wir uns nun der hier ähnlichen Arznei Pulsatilla pratensis zuwenden, dann spüren wir die feine Übereinstimmung mit der Krankengeschichte von dem Kälbchen Rosalie. Wir werden erfahren, wie ein übereinstimmender, durch alle Sinne erlebbarer „Eindruck“ sozusagen das „Arzneimittel-Bild“ entsteht.

Pulsatilla pratensis (as syn. Anemone pratensis) vol. 5 – plate 41 in: Jacob Sturm: Deutschlands Flora in Abbildungen (1796) (fig. 2)

Verrieben und potenziert ist die Kuh- oder Küchenschelle die Arznei Pulsatilla pratensis. Die großen Einsatzbereiche, sind in der Kinderheilkunde vor allem Schmerzen, besonders der  Ohren oder bei der Zahnung. Bindehautentzündungen, Schnupfen und Husten, Magenverstimmung oder auch Windpocken gehören dazu. Um diese Arznei von den vielen anderen Arzneien zu unterscheiden, helfen eben auch hier die für diese Arznei ungewöhnlichen Leitsymptome.

Um diese wiederum besser zu “spüren“ machen wir nochmals einen Ausflug zu dieser im Frühling blühenden Pflanze, der Wiesenküchenschelle, aus der Familie der Hahnenfußgewächse. Sie wächst in Gruppen auf kargen trockenen Heiden in naher Nachbarschaft von Eis und Schnee. Durch ihre langen Pfahlwurzeln ist sie in der Lage, große Trockenheit ohne Schaden zu überstehen. Ihre glockenförmige Blüte wiegt sich stark nickend im Wind und genau dieses Pulsieren (pulsare) führte zu ihrem Namen. Die Pflanze ist von einem Daunenschleier überzogen, eine sanft-weiche Behaarung, gleich einem pflanzlichen Pelz. Die Fruchtstände kennzeichnen sich durch die langgewachsenen Federn aus, die in den Bergen liebevoll als „Wildmännle“ bezeichnet werden.

Wiesen-Kuhschelle (Pulsatilla pratensis), von Stefan.lefnaer – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

Um nun das „Arzneimittelbild“ besser zu verstehen, können wir, während wir dies hier lesen, in Gedanken zwischen dem, was vom Kälbchen Rosalie berichtet wurde, der Pflanze und den folgenden Zeilen hin und herdenken, gleich so, als würde aus all diesen Informationen ein ganz besonders gewebter Teppich entstehen.

Die Vergiftungssymptome, die im Arzneimittelbild zu dem Symptomenkomplex der Arznei gehören, würden hier zu weit führen. Daher seien hier nur die besonders für diese Arznei hinweisenden “Schlüssel“-Symptome, bzw. –Zustände und das besondere Gemüt genannt:

Es ist ein sanftes geselliges aber besonders empfindliches, nach Halt und Trost suchendes Wesen, es möchte nie allein sein. Die Laune ist wechselhaft, besonders liebevoll, freundlich, mild nachgebend, und dann von einem Moment auf den anderen heftiges Jammern und Weinen mit dem Bedürfnis nach Zuspruch und Trost was bessert.

Dieses sehr kindliche Bedürfnis kann auch aus der Entstehung der Pflanzenfamilie der Ranunculaceaen (Hahnenfußgewächse) verstanden werden. Sie stehen in der Evolution, entwicklungsgeschichtlich betrachtet bei den Blütenpflanzen noch sehr weit vorn. Vielleicht erklärt das auch den Verschreibungsschwerpunkt in der Kinderheilkunde. Kennzeichnend dazu ist noch eine große Durstlosigkeit, sowie die deutliche Verschlimmerung, oder gar Unverträglichkeit von fetten Speisen (Schweinefleisch), sowie eine Verschlimmerung in warmen, stickigen Räumen und gegensätzlich dazu ist die deutliche Besserung an frischer Luft. Die Absonderungen (z.B. aus Auge und Nase) sind mild, rahmig gelb bzw. gelbgrünlich mit einem morgendlich bitteren Geschmack.

Eine typische Verschlimmerungszeit ist abends bis nachts mit anfallsartigen meist stechenden Schmerzen.

„Aprilwetter“, von Stefan-Xp – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

Hier können wir die „Arzneimittel-Bild-Energie“ mit einem Synonym zusammenfassend fast erlebbar spüren, ähnlich der: „Wechselhaftigkeit eines April-Tages“. Einem im jungen Jahr abwechslungsreichen Tag, in dessen Verlauf die Sonne mild zu scheinen vermag, jedoch von einem Moment zum andern Schauer daher ziehen, mit den stechenden Schmerzen eines Graupelschauers und gleichzeitig der Erleichterung durch die kühlende, frische Luft!

Und so weisen fast wie von selbst die Besonderheiten der Kuhschelle, wie sie wächst und gedeiht und ihre Heilkraft entfaltet, auf den Zustand des Kälbchens Rosalie.

Nach der Arzneigabe verschwand der Husten sofort, die Augen waren wieder sanft und gesund und man kann nur ahnen wie froh sie war, als sie endlich auf die Alm durfte!