Eine zarte Pflanze mit deutlicher Heilwirkung

Wir denken eine Krankheit beginnt mit einer deutlichen Veränderung des Wohlbefindens. Diese Verschiebung lässt sich oft körperlich beschreiben, da mit Krankheitsbeginn spürbare Symptome, bzw. Krankheitszeichen einher gehen, die sich zunehmend in ihrer Intensität steigern oder deutlichere Störungen mit sich bringen.

Wenn wir uns jedoch einmal fragen, wann wir es genau wahrgenommen haben, bevor uns die Beschwerden begannen zu beeinträchtigen, wissen wir oft keine Antwort.

Es ist eine „subtile“ Verschiebung, die uns aus unserer „Mitte“ der idealen Gesundheit, in eine „Schieflage“ bringt.

Weiterlesen: Gelsemium sempervirens – der gelbe Jasmin

Im Organon schreibt Hahnemann:

§ 9

Im gesunden Zustande des Menschen waltet die geistartige, als Dynamis den materiellen Körper

(Organismus) belebende Lebenskraft (Autokratie) unumschränkt und hält alle seine Theile in

bewundernswürdig harmonischem Lebensgange in Gefühlen und Tätigkeiten, so dass unser innewohnende,

vernünftige Geist sich dieses lebendigen, gesunden Werkzeugs frei zu dem höheren Zwecke unsers

Daseins bedienen kann.

§ 10

Der materielle Organismus, ohne Lebenskraft gedacht, ist keiner Empfindung, keiner Tätigkeit, keiner

Selbsterhaltung fähig; nur das immaterielle, den materiellen Organismus im gesunden und kranken Zustande belebende Wesen (das Lebensprinzip, die Lebenskraft) verleiht ihm alle Empfindung und bewirkt seine Lebensverrichtungen.

§ 11

Wenn der Mensch erkrankt, so ist ursprünglich nur diese geistartige, in seinem Organismus überall

anwesende, selbsttätige Lebenskraft (Lebensprinzip) durch den, dem Leben feindlichen, dynamischen Einfluss eines krankmachenden Agens verstimmt; nur das zu einer solchen `Innormalität´ verstimmte Lebensprinzip, kann dem Organismus die widrigen Empfindungen verleihen und ihn so zu regelwidrigen Tätigkeiten bestimmen, die wir Krankheit nennen, denn dieses, an sich unsichtbare und bloß an seinen Wirkungen im Organismus erkennbare Kraftwesen, gibt seine krankhafte Verstimmung nur durch Äußerung von Krankheit in Gefühlen und Tätigkeiten, (die einzige, den Sinnen des Beobachters und Heilkünstlers zugekehrte Seite des Organismus), das ist, durch Krankheits-Symptomen zu erkennen und kann sie nicht anders zu erkennen geben.

Krankheit ist demnach, wie Hahnemann beschreibt, ein Zustand und ein Zeichen der verstimmten Dynamis = Lebenskraft, welche sich im Körper, in den Emotionen und unserem Erleben und in unseren Tätigkeiten erkennbar als „Veränderung“ widerspiegelt, sozusagen als Ausdruck einer verstimmten (irritierten) geistartigen Lebenskraft.

Wir können bei genauer Betrachtung und im Hin-Spüren vielleicht die ersten Krankheitszeichen entdecken, die sich geradezu subtil im Geistigen widerspiegeln. Jene Empfindung also, die sich änderte, sozusagen kurz bevor die Beschwerden begannen, dies aber noch nicht wahrnehmbar, bzw. spürbar waren.

Was war das, was wir vorher erlebt haben? Eine Situation „vorher“ ist meist eher erinnerlich! Aber was war das individuelle Erleben in dieser oder jener Situation? Denn „nur“ eine Situation reicht nicht aus, um eine in der Homöopathie nötige Individualisierung vorzunehmen. Nur die präzise Individualität des Krankheitsfalles ist hilfreich, um die „geistartige Entsprechung“ einer Arznei zu finden und sie dann zu verabreichen. Dass ist jene geistartige Entsprechung, die über die Krankheitszeichen zu dem Arzneimittelbild führt, das der Heilung dient.

Eine dieser so schwer beschreibbaren, subtilen Verschiebung im Empfinden versuche ich hier in der Anamnese einer kranken alten Dame zu beschreiben.

Sie kam zu mir wegen stark belastender Schwächezustände und einem Zittern der Beine.

Auf die Frage wie alles begann, konnte sie gar nicht antworten, da es sich so langsam „eingeschlichen“ habe, wie sie meinte. Und so war es ihr nicht möglich, genau zu beschreiben, was damit in Verbindung stehen könnte. Sie erwähnte dennoch sehr spontan: „Die Zeit, bevor es los ging, war ein „Schock-Jahr“! Die Firma meines Vaters ging insolvent. Es waren dramatische Ereignisse, die mich regelrecht aus der Bahn geworfen haben. Aber das ist ja nun schon über 20 Jahre her.“

Ich bat sie mir mehr davon zu erzählen.

„Es war vollkommen unerwartet, wie ein Gewitter oder eine Naturkatastrophe! Von einem Moment auf den anderen fühlte ich mich wie in einer Schockstarre und konnte mich um gar nichts mehr kümmern. Vorher hatte ich in verschiedensten Bereichen der Firma zu tun und bin in meiner Arbeit glücklich gewesen und hatte alles unter Kontrolle. Ich konnte viele Dinge voranbringen und schaffen und dann dieser Schock! Ich fühlte mich wie gelähmt, erstarrt und wenn ich mich nun an das Gefühl heranwage, das ich damals hatte, werde ich wieder ganz zittrig.“

Dann bat ich sie: „Erzählen Sie mehr von den Schwächezuständen, die sie haben.“

„Es ist so, als ob ich keine Kraft mehr habe richtig auf die Füße zu kommen. Ich war auch schon bei einem Neurologen, weil ich Sorge hatte, dass es etwas Schlimmeres ist. Aber da konnte nichts gefunden werden. Ich bin ein sehr aktiver Mensch. Wissen Sie, wenn ich untätig rumhänge, treibt mich mein Herz regelrecht zur Bewegung. Es gibt mir fast das Gefühl, dass es sonst stehen bliebe.“ Dabei lacht sie und meint, dass sich das ja etwas verrückt anhören würde.

In ihrem Fallbeispiel, wird sehr deutlich, dass es in ihrem Leben einen „Bruch“ gab, ein Vorher und dem Danach. Die Firmenpleite ergriff sie so plötzlich und vollkommen im Innersten wie ein unerwarteter Schock. Dennoch ging ihrer Arbeit nach, sie war weiterhin sehr aktiv und produktiv und dank ihrer Fähigkeit wie gewohnt weiter zu machen auch gut darin. Aber in ihr war das lähmende Gefühl der „Schock-Starre“, die schleichend körperlich einen Ausdruck fand. Erst mit der Zeit entwickelte sich zunehmend diese Schwäche und das Zittern der Beine wurde auffallender, so dass diese Beschwerden, von ihr selbst nicht direkt mit der Firmengeschichte in Zusammenhang gebracht wurden. Aber wie sie es erzählte, zeigte sich mir in der Anamnese deutlich die Energie der Arznei Gelsemium sempervirens (der gelbe Jasmin) als ähnliches Äquivalent für ihren inneren Zustand. Dies ist eine Pflanze aus der Familie der Brechnussgewächse und mit Nux vomica verwandt.
Bekannt sind die Zusammenhänge mit Influenza-Erkrankungen und deren Folgen. Die Symptome sind dann unter anderem auch Benommenheit, Schwäche, Zittern und „nie mehr so wie vorher“!

Wo beginnt nun die Krankheit?

In diesem Fallbeispiel erleben wir eine Sensitivität (was für eine Pflanzenarznei spricht) nach dem Schockerlebnis der Firmeninsolvenz. Das Gefühl, wie gelähmt, weiter damit klarkommen zu müssen, war der Kreuzungspunkt zwischen Gesundheit und verstimmter Lebenskraft. Das heißt, in dem Moment war keine adäquate, tatkräftige innere Haltung möglich, damit klarzukommen, sondern es war ein so tiefer Schock, dass sie nichts mehr unter Kontrolle hatte. Durch ihre Fähigkeit tapfer weiter zu machen konnte die Krankheit jedoch nicht verhindert werden und ihr später schleichend die Kräfte versagten. Danach wurde der Organismus durch und durch von der verstimmten Lebenskraft beeinflusst, so dass sie Hilfe suchten musste.

Nach einer Hochpotenz Gelsemium sempervirens kamen relativ schnell ihr Lebensmut, ihr Optimismus und eine innerlich gelassene positive Kraft zurück. Das Zittern in ihren Beinen verschwand vollständig wie auch ihre getriebene Unruhe.